Die Tuchvilla by Jacobs Anne

Die Tuchvilla by Jacobs Anne

Autor:Jacobs, Anne
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Blanvalet
veröffentlicht: 2014-11-24T16:00:00+00:00


31

Ich verstehe nicht.«

Das Blatt in Alicias Hand zitterte heftig. Das konnte doch nur ein dummer Scherz sein. Kitty dachte sich häufig schrecklich unpassende Dinge aus, sie war eben ein ungewöhnliches Mädchen …

»Ich fürchte, sie hat die Villa schon sehr früh verlassen, gnädige Frau. Vielleicht sogar in der Nacht. Sie hat Wäsche, Schuhe und Kleider mitgenommen. Auch ihre Kohlestifte und einen Zeichenblock. Was sonst fehlt, weiß ich nicht.«

Das Gesicht der Fabrikantengattin war starr geworden, in diesem Augenblick wirkte sie erschreckend alt.

»Sie wird sich irgendwo versteckt haben, um uns später auszulachen«, sagte sie mit dünner Stimme, doch man hörte, dass sie selbst nicht daran glaubte.

Marie fühlte sich entsetzlich schlecht. Das alles war ihre Schuld, sie hätte es voraussehen müssen, wenn sie nur ihren Kopf benutzt hätte. Aber sie war mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen. Aller Kummer, alle Verzweiflung, die nun in diesem Hause ausbrechen würden, gingen auf ihr Konto.

»Gnädige Frau, man könnte vielleicht am Bahnhof erfahren, wohin sie gereist sind …«

»Am Bahnhof? Ja glaubst du denn, sie sind … Wer ist überhaupt dieser Gérard? Doch nicht etwa …«

»Es handelt sich um Monsieur Gérard Duchamps aus Lyon«, erklärte Marie.

Im gleichen Moment wurde die Tür des Speisezimmers geöffnet, und Direktor Melzer trat ein.

»Ich wünsche nicht, dass dieser Name in meinem Hause erwähnt wird«, knurrte er missgelaunt. »Wenigstens nicht vor dem Frühstück.«

Stumm reichte ihm seine Ehefrau das handgeschriebene Blatt.

»Ich fürchte«, sagte sie leise, »ich fürchte sehr, Johann, dass unsere Kitty eine große Dummheit begangen hat.«

Er las, ließ das Blatt sinken und starrte seine Frau verwirrt an, las noch einmal und richtete den Blick dann auf Marie.

»Das ist doch an dich gerichtet, oder?«, fuhr er sie an.

»Ja, Herr Direktor Melzer.«

»›Meine liebste, meine einzige Vertraute‹«, zitierte er mit leisem Hohn. »Also heraus mit der Sprache. Was steckt dahinter?«

Sein Ton war jetzt einschüchternd hart, so stellte er seine Leute drüben in der Fabrik zur Rede. In der Fabrik, deren Existenz er ihrem Vater verdankte. Aber jetzt war ganz gewiss nicht der Moment, mit ihm über dieses Thema zu sprechen.

»Ich weiß es nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so etwas tun wollte.«

»Lüg uns nicht an!«, brüllte er, außer sich vor Zorn. »Hier steht es doch: ›meine einzige Vertraute‹. Wenn du also die Vertraute meiner Tochter bist, dann hat sie dir auch anvertraut, wohin sie mit diesem verdammten Franzosen weglaufen will.«

Marie tat ihm nicht den Gefallen, vor Angst in Tränen auszubrechen. Sie war in ihrem Leben oft genug angebrüllt worden und hatte sich ein dickes Fell erworben. Peinlich war nur, dass man es bis in den Flur hinaus hören konnte.

»Leider nicht, Herr Direktor Melzer. Aber möglich wäre, dass es in einem der Briefe steht …«

Er wechselte einen Blick mit seiner Gattin, dann starrte er Marie an, als wolle er sie verschlingen. Er sah furchterregend aus, sein Gesicht war rot, die Augen unter den buschigen schwarzen Brauen weit aufgerissen, die Lippen bläulich.

»Briefe? Was für Briefe?«

Sie musste es bekennen, es lag ihr schwer auf der Seele. Außerdem würde man die Briefe sowieso finden, das Fräulein hatte ganz bestimmt nicht die gesamte Korrespondenz mitgenommen.



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